Mein Kiez, meine Spuren – Audiowerkstatt

Sound-Workshops mit Jugendlichen am Berliner Alexanderplatz

Von 2019 bis 2021 haben wir mehrere Workshops für junge Menschen am Berliner Alexanderplatz gegeben. Wir haben Mikrofone verteilt, mit denen die Jugendlichen ihre eigenen Aufnahmen und Interviews machen konnten.

Aus dem Audiomaterial ist ein Radiofeature für Deutschlandfunk Kultur entstanden:

Smilie – Leben auf dem Alexanderplatz

Blogeinträge aus unseren ersten Workshops am Alexanderplatz:

Ausgestattet mit Aufnahmegeräten erforschen Jugendliche das Leben am Alexanderplatz. Der Ort ist für sie selbst und viele ihrer Interviewpartner einer ihrer Lebensmittelpunkte. Einige von ihnen leben dort. Mit der Hilfe von Julia Illmer und Massimo Maio lernen die Jugendlichen, Interviews zu führen, aufzunehmen und mit einem Schnittprogramm zu bearbeiten.

Ausschnitte aus allen am Alexanderplatz geführten Interviews gibt es hier zu hören (Suchbegriff: Asphalt)

Projektblog

Tag 1 / Donnerstag, den 10.10.19
geschrieben von Julia Illmer
Mitten in Berlin, auf dem Alexanderplatz, steht ein besprühter Baucontainer. Ein Ort für junge Menschen, die am Alex abhängen oder dort leben – der Jugendaktionsraum (Jara). Heute sitzen einige von ihnen im Container um den Tisch. Sie erzählen davon, warum der Alex in ihrem Leben eine große Rolle spielt. In den nächsten Tagen werden sie selbst Interviews mit Fremden und Menschen, die ihnen nahe stehen, zum Leben am Alex führen. Wir sammeln Fragen, zum Beispiel:

Wann warst du das erste Mal am Alex und warum?
Warum hängst du am Alex ab?
Wie sieht dein Traum-Alex in zehn Jahren aus?

Mit Mikrofonen ausgestattet beginnen die Jugendlichen sich gegenseitig zu interviewen.

Tag 2 / Freitag, den 11.10.19
geschrieben von Massimo Maio

Noah:
Ich würd dir nicht dazu raten, zum Alex zu gehen, weil du in Sachen reinrutscht und irgendwann nicht mehr zur Schule gehst und gar nichts mehr machst.

Smiley:
Warum kommst du dann so oft zum Alex?

Noah:
Weil ich nicht weiß, wo ich anders hin soll und weil man hier viele Leute kennenlernen kann, auch wenn man keine Freunde hat.

Gemeinschaft und Sumpf, anziehend und abstoßend – so wird der Alexanderplatz in unseren Interviews sehr oft beschrieben. Die Kontaktfreudigkeit der Jugendlichen ist jedenfalls deutlich spürbar. Auch heute befragen sie sich gegenseitig, machen Interviews mit anderen Obdachlosen und mit Touristen. Der Wunsch für nächste Woche: Mit dem Mikrofon zur Polizeiwache.

Tag 3 / Samstag, den 12.10.19
geschrieben von Julia Illmer

In den letzten zwei Tagen sind bereits gut ein Dutzend Interviews entstanden. Wir hören in einige von Ihnen rein. Marc hat ein Interview mit einem Bekannten geführt, der obdachlos ist.

Marc:
Wer sind die wichtigsten Menschen hier am Alex für dich?

E.:
Auf jeden Fall Vatern, lebt unter der Brücke und sehr guter Mann. Hat mich hier angelernt. Das ist Familie halt.

Marc:
Würden Sie diese Menschen mehr als Familie bezeichnen als ihre echte Familie?

E.:
Ja.

Marc:
Also, Familie sind für Sie die, die immer für Sie da sind, auch wenn mal nicht so gute Zeiten sind.

E.:
Meine Straßenfamilie. Ja.

Tag 4 / Dienstag, den 15.10.19
geschrieben von Massimo Maio

Es hätte viele Fragen an die Polizei gegeben, doch sie konnten heute nicht beantwortet werden. Spontane Interviews zu geben ist den Polizisten leider nicht erlaubt. Dafür wurden neue Stimmen auf der Treppe unter dem Fernsehturm aufgenommen:

N:
Welchen Menschen würdest du empfehlen, Zeit am Alex zu verbringen?
S:
Menschen, die sich im Mainstream nicht wohl fühlen und davon Abstand brauchen.

Außerdem hat Yui von ihrer persönlichen Alex-Geografie erzählt. Nördlich der S-Bahn-Gleise hält sie sich nie auf, hat dort ungute Erfahrungen gemacht. Den Platz südlich der S-Bahn-Gleise beschreibt sie dagegen wie ihr eigenes Wohnzimmer.

Tag 5 / Mittwoch, den 16.10.19
geschrieben von Julia Illmer

Jugendliche, Sozialarbeiter, Hunde, Computer, Kopfhörer und ein großer Topf „Chili sin carne“. Heute ist viel los im Jara-Container. Der Regen prasselt auf’s Dach. Wir blicken auf die vielen Interviews zurück, die wir in den letzten Tagen geführt haben. Welche Stellen sind besonders spannend? Das versuchen wir heute herauszufinden. Wir verschwinden unter Kopfhörern, hören und schneiden. Jemand zündet Räucherstäbchen und Kerzen an.

Tag 6 / Donnerstag, den 17.10.19
geschrieben von Massimo Maio

Yui sitzt mit großen Kopfhörern vor dem Computer und schreibt auf, welche Aussagen in ihren Interviews sie am wichtigsten findet.

Yui:
Was denkt ihr über die Obdachlosen hier am Alex?

M + K:
Die sind eher harmlos. Ich fühl mich durch die nicht belästigt, kein bisschen. Die Fragen immer höflich, ob sie die Pfandflaschen mitnehmen können und manchmal kommen wir gut ins Gespräch mit denen.

Bis zum Abend sind unter unseren Kopfhörern mehr als zehn fertige Hörstücke entstanden. Morgen legen wir fest, wo genau wir diese Stücke bei unserem Audiowalk hören wollen. Und wir bereiten alles für unseren Besuch im professionellen Tonstudio vor.

Tag 7 / Freitag, den 18.10.19
geschrieben von Julia Illmer

Nun hat es doch noch mit einem Interview in der Alex-Wache geklappt. Kim sitzt mit ihrer riesigen anatolischen Schäferhündin einer Polizistin gegenüber. Der Alexanderplatz gehört auch zu ihrem Alltag. Sie arbeitet gerne an diesem wuseligen Ort, an dem Pendler vorübereilen, Touristen nach der Weltzeituhr suchen, der Alkoholpegel steigt, je später es wird und Polizisten Streife fahren – ein Ort mit vielen Gesichtern.

Tag 8 / Samstag, den 19.10.2019
geschrieben von Massimo Maio

Heute haben wir dem Alexanderplatz den Rücken gekehrt. Mit der Tram sind wir ins Tonstudio gefahren, wo wir all unsere Stücke gehört und fein geschliffen haben. Alle Stimmen und Perspektiven sind uns heute nochmal begegnet: sorglose K-Pop-Fans, philosophierende Obdachlose, engagierte Sozialarbeiter, kritisch beäugte Polizisten. Nun sind die Stücke fertig und die Boom-Box aufgeladen für unseren Audiowalk über den Alex am Donnerstag, den 24. Oktober. Benannt haben wir den Walk nach einer der eindrücklichsten Alexanderplatz-Beschreibungen, die wir in diesen Tagen gehört haben: Blume auf Asphalt.

Tag 9 Premiere / Donnerstag, 24.10.2019
geschrieben von Massimo Maio

Die Abendsonne hat den Alexanderplatz zu unserem Audiowalk in ein warmes Licht getaucht. Gemeinsam mit unseren Gästen und einigen Teilnehmenden begehen wir die Orte, die für die Jugendlichen rund um den Jara-Container von Bedeutung sind: die Treppen zum Fernsehturm, der trockene Boden unter der S-Bahnbrücke, die Wiese hinter der Marienkirche und natürlich die Sitzgelegenheiten vor dem Jara-Container. An jeder Station hören wir einige der Hörstücke, die in den letzten zwei Wochen entstanden sind, hören Geschichten und Begegnungen. Nach dem Hörspaziergang gibt es Applaus für die Jugendlichen, Getränke für alle und Sätze von unseren Gästen wie „Ich kenne den Alex seit über 20 Jahren, aber so hab ich ihn noch nie gesehen.“

Eingeladen sind alle zur Projektpräsentation:

Blume auf Asphalt – Leben am Alexanderplatz. Ein Audiowalk von jungen Menschen
Donnerstag, den 24. Oktober 2019 um 17:30 Uhr
Treffpunkt: Am S-Bahnhof Alexanderplatz auf Gleis 3/4 (bei den Aufzügen)

Konzept und Realisation: Julia Illmer und Massimo Maio

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Das Projekt „Audiowerkstatt – Mein Kiez, meine Spuren“ wird unterstützt durch das Programm MeinLand – Zeit für Zukunft der Türkischen Gemeinde in Deutschland im Rahmen des Bundesprogramms Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Das Projekt wird umgesetzt von einem Bündnis aus den Berliner Einrichtungen Expedition Metropolis e.V., Knüpfwerk e.V. und SozDia Berlin GmbH sowie dem Aktionspartner JugendAktionsRaum vom Moabiter Ratschlag e.V. Das Bündnis ermöglicht bildungsbenachteiligten Jugendlichen, sich auf mediale und ästhetische Weise mit dem Berliner Alexanderplatz auseinanderzusetzen, einem ihrer Lebensmittelpunkte, der für einige auch eine Art zweites Zuhause ist. Das Bündnis plant auch für die nächsten Jahre weitere Projekte am Alexanderplatz.

Förderer und Kooperationen:
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